Essays. Librettos. Television.
Essays
(Selection)
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Stirbt ein Wal, beginnt sein langsames Absinken auf den Meeresgrund und was dort unten ankommt und verbleibt, wird als Walsturz bezeichnet. Anders als die Kadaver der meisten großen Meerestiere, denen es an reichhaltigen Lipiden in den Knochen mangelt - oder, wie den Haien, die noch nicht einmal Knochen haben - ist ein Walsturz voller Leben, wenn er seine letzte Ruhestätte erreicht. Auf seinem langen Weg nach unten wird er zu einem Ökosystem, das Muscheln, Schalentiere, Napfschnecken, Bakterien und andere Organismen ernährt. Daher vergleichen Biologen trotz der Dunkelheit dieser weit entfernten Sphäre den Sturz eines Wals mit einem plötzlichen Aufblühen des Frühlings.
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Sieben Wochen in Japan, auf der Suche nach Gewässern und Einsamkeit, dank eines Stipendiums der Okeanos Foundation for the Sea. Die 14 Travelogues handeln von unserer Verbindung zur lebendigen Welt und dem Schillern ihrer Erscheinungsformen.
„Meine eigene Pilgerreise bestand darin, den Verbindungen nachzuspüren, die wir mit dem Wasser haben: dem Meer, den Flüssen, den Kanälen, den Flussmündungen, den Wasserfällen, den heiligen Seen, den alltäglichen Teichen, den Aquascapes und den Straßenaquarien. Das Leben, das in ihnen steckt, unsere Entfremdung von ihren Strömen und die Einsamkeit, die dies in uns auslöst. Ich hoffe, dass ich zu Orten und Gedanken geführt werde, die ich nicht vorhergesehen habe.”
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Während der Hundstage, als die Luft über den weiten Oderauen flirrte und flimmerte, verstummte der Fluss. Die Stille sickerte in die ausgedörrte Erde, sie drang in das Schilf und ließ die Ulmen, Weiden und Stieleichen reglos zurück. Die Ursache dieser Lähmung war mehr zu fühlen als zu hören, eine Abwesenheit von Tieren, Insekten, Vögeln, deren Stimmen, Bewegungen. Das war noch Tage vor den toten Fischen. Dann, ab dem 10. August, tauchten die leblosen Körper von Stören, Quappen, Hechten, Ukelein und unzähligen anderen auf und gelangten in die Nachrichten. Fotos von lidlosen Fischaugen, die hinaus starrten in ein absolutes Grauen. Die Münder in einem letzten Atemzug geöffnet, unfähig, Sauerstoff für den Körper, die Organe, das Leben darin zu ziehen. Tote Fische an Orten, an denen sie nicht sein sollten: auf der Wasseroberfläche treibend, angespült zwischen dem Schilf und an den schlammigen Ufern, in den Wellenbrechern angestaut. Die Muscheln und Schnecken blieben ungesehen im Flussbett liegen, die Schalen geöffnet, ein letzter stummer Schrei. Hunderte von Tonnen an Biomasse.
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There are rivers in the sky. Fed by the oceans, called by the trees. Serving as particle messengers, fungus spores and terpenes are released from the rooted soils and leafy foliages, sent up into the air to ionize the clouds. Anthropomorphized, the summoning by the trees might translate into: „Come hither, Come hither, you droplets and driblets of water.“ Addressed in nature’s language this works — not like magic and not like an algorithm, but because of the sensual interplay of everything alive.
There are Rivers in the Sky, Lissome Magazine, illustrations by Mimi Robson, April 2021
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Die Kosmologie verläuft selbst in der horizontalen, flachen Landschaft vertikal. Von oben – Himmel – nach unten - Hölle. Dazwischen: die dünne Ebene, in der das Leben wurzelt. Eine zarte, empfindliche Schicht, die der Mensch in dystopische Landschaften verwandelt. // Vilgiskoddeoayvinyarvi, der Wolfssee in den Bergen, war einst die Heimat der samischen Ureinwohner und ihrer Rentierherden. Heute sind die Seen, Flüsse und Sümpfe vergiftet. Kupfer- und Nickelminen sowie Schmelzhütten haben die kargen Böden umgewälzt. Nur der Wind und einige Vögel ziehen über die Hügel, das sonstige Leben verschwindet auf der subarktischen Halbinsel Kola. // Irgendwo inmitten dieser kargen Gefilde erhebt sich ein verfallener Industrieturm. Seine Trümmer liegen auf dem Boden verstreut. Am Fuß des Turms: eine Metallabdeckung, etwa eine Armeslänge im Durchmesser, verschweißt und verschlossen mit Eisenschrauben, dick, schwer, verrostet. Darunter: der Eingang zum einst tiefsten Loch der Erde.
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2020 bat Jongerius mich, ihr dabei zu helfen, den Aspekt des Kosmischen in den Webstuhl zu übertragen. Sie sah ihre Rolle im Lauschen und Form geben, um dann einen Gegenstand (das deutsche Wort drückt fast bildhaft die Idee aus, dass ein „Gegen-Stand“ uns mit etwas anderem konfrontiert), ein Objekt, oder eine Materie zu schaffen, die oder das eine neue Art des Denkens über die Fabrikate und Fabrikationen der Welt ermöglicht. Jongerius Arbeit entstammt immer zuerst aus ihren Händen, aus dem Berühren, dem Spielen, dem Experimentieren. Wo andere glauben, Material und Technik ausgereizt zu haben, drängt sie weiter, spürt hinein und geht darüber hinaus, manchmal ins progressiv Futuristische. Es ist als reagierten ihre Hände auf einen ihr innewohnenden Geist und werden selbst zu Lehrerinnen, die schließlich die Technik sensibilisieren. Effizient, radikal und doch poetisch und sinnlich.
Katalog Text für Hella Jongerius, Gropiusbau. Cosmic Loom. February 2021
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“Es bedarf einiger Anstrengung, den Einstieg zur Route 26 zu finden. Sie führt aus der vom Tsunami 2011 zerstörten und inzwischen wieder aufgebauten Stadt Kesenuma hinaus zu den Buchten des Sanriku Fukko National Parks. Die alte Straße zweigt unscheinbar zwischen einem kürzlich errichteten Seven Eleven und einem Family Mart ab und lässt bald alles Neue und Wiedererrichtete hinter sich, um schmal und steil in die Berge hinaufzuklettern. Jede Haarnadelkurve ist mit einem runden Spiegel versehen, der den entgegenkommenden Verkehr reflektiert, ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Menschen solche Straßen mühsam in die Landschaft gezwängt haben. Heute nutzen nicht mehr viele diese Strecke. Die Bäume bilden ein Blätterdach, dicht und lebendig, dazwischen flimmernde Lichtstrahlen, und dort, wo die Sonne auf die Zwischenräume trifft, tanzende Aerosole und Pollen im goldenen Schein. Es ist schwer, dabei den Blick auf der Straße zu halten. Nach etwa einer Viertelstunde geht es wieder bergab, und bald führt ein noch kleinerer Weg hinunter zu einem Wasser, das in der Ferne glitzert.”
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Late autumn, back office at Shogyoji temple. The chatter of the women on duty in the nearby kitchen drifts into my room. I kneel at a desk and practice shodou 書道, Japanese calligraphy; the scent of freshly ground sumi 墨 rises from my wet inkstone. In front of me a plate with slices of bright orange kaki fruits. Hirano-san had brought them around in a bucket in the afternoon. I remember their bright dots against the blue sky from my walk to the mountain earlier in the day. I breathe in, halt, then pour my intent thick and dark onto the white of the paper. Hold still. Dip my brush once more and let the horsehair run again over the surface, slightly resisting the rice fibre structure. I look up. Koujun-san, the old monk smiles at me from the doorway; in his hands, a tray with his tea tools. He nods, enters. Kneeling next to me he prepares two small cups of his favorite temomicha. The light transparent green, the fresh chlorophylls, unfurling on my taste buds like life itself. Each sip pulls me more and more into the present, until it envelops me. The Now is a hard place to reach. And to stay there is impossible.
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Das Inakaya zelebriert das Urtümliche, das Unverstellte, ein Herbst im ewigen Frühling, zu dem unsere Gegenwart geworden ist. Es heißt, als die ersten Menschen vom asiatischen Festland auf die Inselketten zogen, fanden sie auf ihnen ein Füllhorn von Pilzen, Algen, Fischen vor, dazu frisches, klares Wasser, Wurzeln, Samen, Wildpflanzen.
Shinrabanshō – der Wald, der alles bedeckt, und darin die zehntausend Dinge. Die ersten Räume Japans, die nicht als Behausung und Schutz vor Wind und Wetter galten, waren die Shinto-Schreine: Hier huldigte man der Natur. Weder Zaun noch Gitter, nur ein rotes Tor, das durchschritten werden musste, markierte so einen Ort. Wer die Schwelle überschreitet, ist da. Alles, was außerhalb liegt, ist draußen und fern.
So ist das auch in Tokio, einer Stadt, die mehrdimensionaler ist als andere Metropolen. Als habe jemand eine normale Großstadt genommen und sie verdichtet, gefaltet zu einem Origami-Werk, in dem verschiedenste Welten auf ungewöhnliche Weise aufeinandertreffen.
Das Gefühl, eine unsichtbare Schwelle überschritten zu haben, kann einen hier jederzeit ereilen. Dinge liegen plötzlich nebeneinander, die sonst konzeptuell weit voneinander getrennt sind. Räume tun sich an Orten auf, an denen man sie am wenigsten vermutet.
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"Man lässt jetzt seinen Schatten besehen, wie ehemals sein Wasser", schrieb 1778 Georg Christoph Lichtenberg über die Raserei mit der Schere, die Narretei, Papierschnitzeley und Flachkunst, die seit wenigen Jahren die Fürstenhäuser und Gebildeten Europas beschäftigte: der Scherenschnitt, die Portraitsilhouette, die angefertigt, gedeutet und getauscht wurde.
Ganz plötzlich war dieses Phänomen erwacht, und es gab zwischen Weimar und Darmstadt keinen erlauchten Kopf, der ihn nicht ins Licht gehalten hätte. Sturm und Drang, Freundschaftsempfinden, wahre Emotionen: Der Scherenschnitt lieferte die perfekte Projektionsfläche dafür. Die kleinen Bildchen ließen sich einfach anfertigen, beliebig sammeln und waren doch leer genug, um darin alles zu sehen, was man darin erkennen wollte. Ein Züricher Pfarrer, Johann Caspar Lavater, verfasste das begleitende Kultbuch "Physiognomische Fragmente von Silhouette und Schattenriss" und entfachte damit einen Wahn, der sich darin äußerte, dass ein jeder eines jeden Schattenbild zu erklären versuchte, ausgenommen Lichtenberg. Vielleicht lässt sich das heute mit der Partyfrage nach dem Horoskop vergleichen.
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Knapp über hundert Jahre lang sausten Rohrpostbriefe durch den Untergrund von Paris, London, Berlin, New York und vielen anderen Metropolen der Welt. Die erste "Pneumatic Mail Dispatch Order" wurde 1863 in London durchs Rohr geschossen, die letzte ploppte 1984 in Paris aus dem Netz. Die Rohrpost als flächendeckendes Kommunikationsmedium etablierte sich in einer Welt, in der noch Kaiser und Könige Europa regierten, Jules Verne über einen Ausflug zum Mond schrieb und die industrielle Revolution nicht mehr wegzudenken war.
Librettos
Der Traum des Störs. Libretto. Zusammen mit Isaac Yuen for Frau von Da.
Aufgeführt in Ahrenshoop, Berlin and Aland.
Under the first sturgeon moon
the one sea shudders
a cosmic sigh, this night alone
to welcome
jewel-studded fish
who came to exist
not on this day, night, or month
that year, decade, or millennia, not
out of the blue
but in the presence of that zeal for life—
has become
and now is and
will be
until one future day, in one singular moment
will not. Cease to exist. Vanish. Forever
Foam on the sea.
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Zusammen mit dem Iranischen Autoren Amir Hassan Cheheltan für Frau von Da.
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Die Beziehung zwischen einer älteren japanischen Dame und ihrem KI-gesteuerten Pflegeroboter. Zusammen mit der Komponistin Mayako Kubo. In Arbeit.
TV Documentaries
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